In welcher Form Degrowth („Entwachstum“) den westlichen Lebensstil kritisiert und eine Schlüsselbewegung für alternative Wirtschaftmodelle sein kann, darüber sprach Ruth Fulterer mit der Umweltphilosphin Barbara Muraca.
Was ist für Sie das Besondere an der Degrowth-Bewegung?
Degrowth ist eine Botschaft der Befreiung. Wir wollen dem Zwang zu Wachstum, der in allen Bereichen unserer Gesellschaft steckt, entkommen. Wir kritisieren damit die Lebensform des Westens. Diese Kritik ist radikal.
Radikal, weil sie dem Kapitalismus widerspricht?
Ja, kapitalistische Gesellschaften sind Wachstumsgesellschaften. Sie sind wie Fahrräder, die umkippen, wenn man sie kurz abstellt. Wirtschaftswachstum ist tief in unseren Werten verankert. Und unsere Gesellschaftsordnung braucht es, damit das Steuergeld ausreicht, damit es genug Erwerbsarbeit gibt, damit Menschen den sozialen Aufstieg schaffen können. Das Fahrrad muss nicht nur weiterfahren, sondern auch immer schneller. Wenn es anhält, gibt es Stagnation, Krisen. Deshalb müssen wir das Fahrrad zu einem Dreirad umbauen, das nicht umkippt, wenn es stehen bleibt.
Kann diese Utopie in der aktuellen globalen Lage realisiert werden?
Traditionell sieht sich Degrowth als eine Bewegung des globalen Nordens. Wir wollen nicht wieder den kolonialistischen Fehler machen, den anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben.
Barbara Muraca ist eine italienische Umweltphilosophin und beschreibt sich selbst als wissenschaftliche Aktivistin. Zur Degrowth-Bewegung fand sie 2004 über ein Buch des Wachstumskritikers Mauro Bonaiuti.
Kann Degrowth eine internationale Bewegung werden?
Nein, denn es gibt nicht das eine Modell, das überall funktioniert. In Europa sind in den vergangenen Jahren viele Nischen-Experimente entstanden. Diese Projekte sind aus dem Lokalen erwachsen. Sie können nicht expandieren und gleichzeitig ihre lokale Verankerung behalten.
Was bringen Nischen-Experimente dann?
Wenn Menschen ihre Vorgärten durch Permakultur bewirtschaften und ihren eigenen Strom produzieren, dann ist das nett und interessant. Aber es bringt nicht viel, weil es unabhängig von gesellschaftlichen Strukturen passiert.
Gemeinschaftliche Experimente hingegen sind extrem wichtig, denn hier können Menschen neue Formen der Solidarität und Mitbestimmung erfahren. Bei einer Konferenz haben wir Dinge, die wir uns für eine Zukunft vorstellen, im Kleinen ausprobiert: Es ist recht anarchistisch zugegangen, hat aber gut funktioniert, weil alle sehr auf den Umgang miteinander geachtet haben. Nur so kann sich die Kultur verändern.
Wie geht’s weiter?
Wir haben einiges erreicht, die Bewegung ist inzwischen sehr vernetzt und auch an den Universitäten etabliert. Leider ist die Bewegung noch nicht sehr divers. Die meisten, die sich engagieren, haben keinen Migrationshintergrund und sind typischerweise aus einem links-bürgerlichen Milieu. Da riskiert man, die eigene Erfahrung als Maßstab zu nehmen.
Ich hoffe, wir werden in Zukunft besser darin, auch andere Menschen einzuladen, auch Personen, die sich mit ihren Sorgen bisher eher in der populistisch-konservativen Ecke wiedergefunden haben.
Ruth Fulterer hat Volkswirtschaft und Philosophie studiert. Sie schreibt, um immer wieder einen neuen Blick auf die Welt zu bekommen und ihn mit anderen zu teilen. Vorzugsweise über Wirtschaft, Nachhaltigkeit und Feminismus.
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